Im holzvertäfelten Rundzimmer der Universitätsbibliothek präsentieren die stellvertretende Leiterin der Historischen Sammlung, Karin Zimmermann, und die Kunsthistorikerin Lisa Horstmann vier mittelalterliche Handschriften des Welschen Gast von Thomasin von Zerklaere. Nebenher geben sie auch noch eine Einführung in die Digitalisierung von Manuskripten.
Von Christiane Schröter und Nele Schneidereit
Letzte Reste der Abendsonne fallen auf den großen runden Tisch. Darauf liegen vier Buchwiegen aus grauem Schaumstoff mit aufgeschlagenen Handschriften aus dem Mittelalter. An einer Seite hat Karin Zimmermann eine Heftlade aus Holz aufgebaut; ein hohes, schmales Gerät, dessen Handhabung sich nicht unmittelbar erschließt – es diente zum Binden der Bücher. Vorn liegt ein abgenommener Buchumschlag – welliges Leder, und krumme Fäden erinnern daran, dass alte Bücher aus organischen Materialien bestehen.

Daneben die weißen Handschuhe, die schon jetzt zu einem Symbol unserer Veranstaltungsreihe geworden sind. Unter den Fenstern flimmert ein Bildschirm – Papier und Pergament werden nicht die einzigen Materialitäten sein, denen wir heute begegnen.

Die vor uns liegenden Bände gehören zur Bibliotheca Palatina, der einst berühmtesten Büchersammlung Deutschlands. Ihre Bestände an mittelalterlichen Handschriften und frühen Drucken (Inkunabeln) wurden seit der Gründung der Universität Heidelberg im Jahr 1386 gesammelt. Als Heidelberg im dreißigjährigen Krieg 1622 erobert wurde, verlor die Stadt ihre berühmte Bibliothek. Auf Ochsenkarren und Maultierrücken wurde sie in den Vatikan nach Rom gebracht. Erst nach dem Wiener Kongress durfte die Bibliothek 1816 nach Heidelberg zurückkehren. Allerdings nur die 847 deutschsprachigen Codizes. Die griechischen, lateinischen und hebräischen Bände befinden bis heute im Vatikan.
Um Gewicht beim Transport zu sparen, wurden zudem die allermeisten der einst prachtvollen Einbände abgenommen und verbrannt. Die heutigen schlichten Einheitseinbände sind nicht nur ein ästhetisches Problem; es ist heute fast unmöglich, etwas über die Herkunft der Bücher zu sagen. Retrospektiv müssen wir trotzdem froh sein, dass die Bibliothek damals nach Rom gereist ist. Wahrscheinlich wäre sie sonst im Pfälzer Erbfolgekrieg in Flammen aufgegangen.
Thomasin von Zerklaere war zwar Italiener – daher der Titel seines Werkes Der Welsche Gast – er schrieb aber auf Deutsch. Und so liegen die vier Heidelberger Ausgaben des Textes nicht im Vatikan, sondern vor uns. Thomasin hat seine Verhaltenslehre für den deutschen Adel wohl um das Jahr 1215/16 geschrieben. Fast alle der 25 erhaltenen Textzeugen verfügen über reichhaltige Illustrationen, die bei allen Unterschieden durch die Jahrhunderte doch erstaunlich gleich bleiben.
Lisa Horstmann erforscht die Veränderungen der Bebilderung im Lauf der Zeit und das Verhältnis der Bilder zum Text. Sie kann dabei auf ganz moderne Mittel zurückgreifen, denn Der Welsche Gast wird in einem Kooperationsprojekt von Universitätsbibliothek und Sonderforschungsbereich 933 digital ediert.

Lisa Horstmann zeigt am Bildschirm, dass man sich Text und Bilder mehrerer Ausgaben nebeneinander ansehen kann. Unterschiede fallen so sehr schnell auf. Früher war das nicht möglich – man hätte in mehrere Bibliotheken fahren müssen und hätte dennoch nicht den gleichen Effekt gehabt.
Die Universitätsbibliothek begann im Jahr 2000 mit der Digitalisierung ihrer Bestände. Schnell schaffte man einen eigenen Grazer Buchtisch an. Dieses hochspezialisierte Gerät scannt die Bücher besonders schonend. Handschriften und Inkunabeln liegen dabei auf einer Bücherwiege, über die sich dann eine Kamera bewegt. Zur vorsichtigen Glättung wird das Papier auf der Unterseite des Buchtisches angesaugt. In der elektronischen Nachbearbeitung werden die Scans dann zusammengeführt.
Insgesamt ist die Digitalisierung in den Bibliotheken ein großer Erfolg für die Erschließung und breite Zugänglichkeit alter oder fragiler Texte. Forschende oder Interessierte müssen keine weiten Reisen auf sich nehmen und können die Texte zu jeder Uhrzeit ansehen. Und wenigstens digital konnte vergangenen Monat die Wiedervereinigung der Bibliotheca Palatina gefeiert werden.

Doch werden im Rundzimmer auch die Probleme und Defizite der Digitalisierung thematisiert und diskutiert: So können Beischriften oder Rasuren oft nur am Textträger selbst identifiziert werden, und auch die Unterscheidung von zufälligen Flecken und beabsichtigten Einfärbungen erfordert nicht selten den Blick ins Original. Auch täuscht das Digitalisat oft über die Größe des Buches. Zentimetermaße und Farbkeile sind einfach abstrakter als das Original auf dem Tisch. So bewahren Digitalisate die Texte zwar vor Tintenfraß und Zersetzung, einen gewissen Verlust muss man aber auch hier in Kauf nehmen. Digitalisat und Original sind folglich zwei Formen von Materialität, deren Prekarität (noch…) nicht ganz überwunden werden kann. Probleme und Potenziale des Materials bleiben erhalten und es wird weiterhin darauf ankommen, die digitale Speicherung und Präsentation ebenso anzustreben, wie die Archivierung und Pflege der Originale.
Kontakt:
Lisa Horstmann (lisa.horstmann [at] zegk.uni-heidelberg.de)
Dr. Karin Zimmermann (zimmermann [at] ub.uni-heidelber.de)
Ein Gedanke zu „Der mittelhochdeutsche Knigge auf Pergament und in Bits“